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Erinnerung aufpoliert - Burger Roland-Gymnasiasten putzen mit Joachim Gremmes Stolpersteine in der Kreisstadt 

Rund 40 Stolpersteine, die auf jüdische Schicksale hinweisen, gibt es in Burg. Mit einer besonderen Aktion machte Initiator Joachim Gremmes zum Holocaust-Tag darauf aufmerksam. 
©Volksstimme 29.01.2022 
Von Thomas Pusch

Burg ● Den Hinweis auf ein jüdisches Schicksal gibt es gleich gegenüber vom Roland[1]Gymnasium. Mit einer Kantenlänge von knapp zehn Zentimetern ist der Stolperstein allerdings von dort aus kaum zu erkennen. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages sind Neuntklässler den Steinen allerdings ganz nahegekommen. Joachim Gremmes hatte Koordinatorin Dana Hulgaard gefragt, ob Interesse an einer gemeinsamen Aktion bestehe. Gremmes, der 1977 als Pfarrer nach Burg kam und seit 2010 im Ruhestand ist, hat diese Initiative von Gunter Demnig 2003 aufgegriffen, um an jüdisches Leben, jüdische Schicksale in Burg zu erinnern. 35 Steine sind seitdem an 13 Stellen in der Stadt gesetzt worden. Einmal im Jahr macht Gremmes sich auf den Weg, um sie zu putzen. Diesmal bekam er Unterstützung. „Mein Hauptinteressengebiet war immer die Geschichte des jüdischen Volkes, die hebräische Sprache“, sagte er. Dazu gehöre auch die Ermordung der Juden in der Nazizeit. Sie seien aber nicht die einzigen gewesen, auch Sinti und Roma, Kommunisten und Sozialdemokraten, Behinderte und viele andere, die nicht ins System passten, seien ums Leben gekommen. Die Idee des Kölner Künstlers habe ihn angesprochen, weil man so vor Ort über die jüdischen Schicksale gedanklich stolpert, „auch in unserer Kleinstadt“.

Aufmerksam hörten die Neuntklässler zu, stellten Fragen, die deutlich machten, dass sie sich mit der Zeit schon aus eigenem Interesse befasst hatten. „Im Unterricht sind wir erst in der Weimarer Republik“, sagte Geschichtslehrerin Doreen Koch. So wollte ein Schüler wissen, ob es nicht Schmierereien an jüdischen Geschäften gab. Gremmes erinnerte an die Schilder „Deutsche wehrt euch, kauft nicht bei Juden“ und hatte auch eine persönliche Geschichte parat. Als seine Mutter in einem jüdischen Geschäft Briefumschläge gekauft hatte, wurde ihr von einem Posten ein Stempel ins Gesicht gedrückt, Aufschrift: „Wir Verräter kauften bei Juden“. „Davidstern, Ghettoisierung, das Jim Pass“, zählte Gremmes weitere Stufen der Diskriminierung auf. Ab 1938 habe dann jede jüdische Frau den Namen Sara, jeder jüdische Mann den Namen Israel tragen müssen. Im KZ hätten sie dann gar keine Namen mehr gehabt, sondern seien nur noch Nummern gewesen. „Wir müssen aber nicht in eine Gedenkstätte fahren, sondern erfahren, dass es auch bei uns Menschen gab, die andere angezeigt, Steine in die Fenster von Juden geworfen, dabei vielleicht gelacht haben“, sagte er. Rund eineinhalb Stunden war die Gruppe unterwegs, mit vielen Schicksalen wurden die Neuntklässler und die beiden Lehrerinnen konfrontiert: Das Leid der Familie Badrian in der Brüderstraße, Rechtsanwalt Alfred wurde in Riga ermordet. Kürschner Emil kam mit 83 Jahren im KZ Treblinka ums Leben. So ging es durch die Altstadt. Marianne Heine, die am Markt wohnte, war stolz darauf, ohne Judenstern durch die Stadt zu gehen. Am 4. Januar 1944 wurde aber auch sie im Konzentrationslager umgebracht, der Totenschein wies eine Bauchfellentzündung als Todesursache aus. Nicht von allen jüdischen Familien gibt es so viele Details über ihr Leben. Das Problem: In städtischen Registern sei nichts verzeichnet, die Register der jüdischen Gemeinde seien vernichtet worden. Wohl bekannt ist aber, was mit der Familie Schuster aus dem Breiten Weg passierte. So wurden die beiden Kinder Horst (14) und Jutta (12) von der Burger Schule ausgeschlossen, sie sollte judenfrei sein. Fortan mussten sie in Magdeburg zur Schule gehen, waren immer ängstlich, denn der gelbe Stern machte sie praktisch zu Freiwild, ungestraft durfte ihnen Gewalt angetan werden. Ein Klassenfoto zeigt 37 Schüler und den Lehrer. „Von den 38 haben nur fünf überlebt, weil sie sich in die USA oder nach Australien retten konnten“, so Gremmes.

Horst und Jutta gehörten nicht dazu. Gerade der Leidensweg der beiden Jugendlichen, die in einem ähnlichen Alter waren wie sie selbst, zeigte Wirkung auf die Neuntklässler. Und auch eine Episode, die Gremmes zu den Stolpersteinen erzählte: „Kurz nachdem wir sie als erste gesetzt hatten, waren sie mit schwarzer Farbe übersprüht“. „Lüge“ stand dann da. „Ich war vor kurzem mit einer Gruppe in der Gedenkstätte Bernburg“, erzählte Koordinatorin Hulgaard. Besonders betroffen hätten die Fotos der Opfer aus den sogenannten Kinderfachabteilungen gemacht. Doreen Koch hat diesen Besuch mit ihrer Klasse für den Herbst geplant. „Es war heute eine Bereicherung“, sagte sie. Pfarrer Gremmes hat bei dem Rundgang vielen Opfern mit Fotos ein Gesicht gegeben. Und war voll des Lobes. „Es war eine tolle Erfahrung, wie konzentriert die Schüler bei der Sache waren und nachgefragt haben“, sagte er. Mit Sicherheit gebe es eine Wiederholung. Nach 90 Minuten machten sich die Schüler auf den Weg zurück zum Gymnasium, Gremmes hatte noch ein paar Steine vor sich. Und sein Wirken ist ohnehin noch nicht abgeschlossen. Von zwei weiteren jüdischen Burgern hat er Namen und Adresse, an sie könnte auch mit einem Gedenkstein erinnert werden. Und dann gibt es noch drei, vier Namen ohne konkrete Adresse. Die Arbeit geht noch weiter, das Erinnern auch.